Der Sehsinn ist für uns Menschen von großer Bedeutung. Solange er intakt ist, können wir uns kaum eine Welt ohne ihn vorstellen. Wir nutzen ihn, um unser Umfeld wahrzunehmen und uns zu orientieren. Jedoch sehen wir die Welt nicht unbedingt, wie sie tatsächlich ist, sondern so wie unser Gehirn visuelle Informationen bearbeitet. Und damit nicht genug: wie wir Dinge im Detail wahrnehmen, unterscheidet sich sogar von Mensch zu Mensch.
Optische Täuschungen
Optische Täuschungen sind das klassische Beispiel, um den Unterschied zwischen Realität und unserer Wahrnehmung zu veranschaulichen: Auf diesem Bild 1 wirkt die Kirsche über dem (B) heller als die Kirsche über dem (A). Wenn man das Bild jedoch auf die beiden eingezeichneten Rechtecke (s. Animation) zuschneidet, erkennt man, dass die beiden Kirschen in Wirklichkeit die gleiche Helligkeit und Farbe haben. Ohne jegliche bewusste Steuerung berücksichtigt das Gehirn, den vorhandenen Schatten. Daran ist zum einen die Information beteiligt, die das Bild hergibt: Es gibt dunkle und helle Kirschen. Zum anderen erwarten wir: Im Schatten ist alles etwas dunkler als im Licht. Als Schlussfolgerung daraus ergibt sich: Die Kirsche (B), die im Schatten heller ist als die andere im Schatten liegende Kirsche, muss folglich eine helle Kirsche sein.
Somit muss sie auch heller sein als die dunkle Kirsche (A), die im Licht liegt. Evolutionär gesehen bietet das den Vorteil, dass wir Nahrung in verschiedenen Lichtverhältnissen voneinander unterscheiden und solche Dinge wie den Reifegrad von Früchten sehr schnell feststellen können, ohne überhaupt darüber nachdenken zu müssen. Es gibt unzählige solcher Beispiele, die alle eine ähnliche Begründung haben. Unser Sehsinn ist also nicht darauf ausgerichtet, die Wirklichkeit exakt abzubilden, sondern uns möglichst praktische Informationen zu liefern.
Jeder nimmt die Welt mit anderen Augen wahr
Das Sehsystem funktioniert zwar bei jedem Menschen im Prinzip gleich, jedoch hat jeder seine individuelle zelluläre Zusammensetzung. Die Netzhaut des Auges, die auf Lichtreize reagiert und die Informationen an das Gehirn weiterleitet, besteht aus fünf verschiedenen Nervenzelltypen. Diese können alle nochmals in diverse Subtypen unterteilt werden. Schätzungsweise gibt es rund 60 Nervenzelltypen in der Netzhaut, die sich in Aufbau, Funktion und Wirkungsweise voneinander unterscheiden. Darüber hinaus spielen die Verknüpfungen zwischen diesen Zellen untereinander eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung und Weiterleitung visueller Informationen. Dass dieses komplizierte neuronale Netzwerk nicht bei jedem Menschen exakt gleich aufgebaut sein kann, versteht sich dabei von selbst. Die Auswirkung wird deutlich, wenn man allein die Verteilung der Zapfen – die Sehsinneszellen, die für das Farbensehen verantwortlich sind – betrachtet.
Es gibt in der menschlichen Netzhaut drei verschiedene Zapfentypen, die jeweils ein spezielles Sehpigment enthalten. Jedes dieser drei Sehpigmente reagiert auf einen anderen Spektralbereich des Lichts. Abhängig davon, in welchem Verhältnis diese drei Zapfentypen beim Sehen aktiviert werden, entsteht der entsprechende Farbeindruck. Dazu kommen noch genetisch bedingte Variationen dieser Sehpigmente, die einen großen Beitrag zum individuellen Farbensehen leisten. Durch diese genetischen Veränderungen werden Sehpigmente mit einer veränderten Struktur gebildet. Die Strukturänderung führt dann dazu, dass das Sehpigment durch ein anderes Lichtspektrum angeregt wird.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Rot-Grün-Sehschwäche, bei der die Betroffenen als Folge der genetisch bedingten Veränderung des entsprechenden Sehpigments die Farben Rot und Grün schlecht bis gar nicht voneinander unterscheiden können. Solch eine Mutation hat allerdings nicht immer so eine drastische Folge. Meistens kommt es dadurch nur zu Verschiebungen des Aktivierungsverhältnisses der Zapfen, die aber immer noch das Erkennen und leichte Unterscheiden aller Hauptfarben erlaubt. Somit ist das Aktivierungsverhältnis in jeder Netzhaut einzigartig und insbesondere Farben werden individuell anders gesehen. Im Grunde genommen sieht kein Mensch eine Farbe exakt so, wie sie ein anderer sieht. Manche Menschen können deshalb auch Farbnuancen differenzieren, die für andere Menschen nicht wahrnehmbar sind.
Aus Erfahrung lernen
Was wir sehen, hängt auch mit unserer Erfahrung und unseren Erwartungen ab. So verarbeitet unser Gehirn bestimmte Informationen auf eine Weise, die es einmal gelernt hat. Daher ist es möglich einen Satz recht flüssig zu lesen, in dem die Buchstaben der einzelnen Wörter durcheinander gebracht wurden. Vorausgesetzt ist lediglich, dass der erste und letzte Buchstabe eines jeden Wortes an der richtigen Stelle stehen, die Wörter bekannt sind und der Satz einen Sinn ergibt.
„Sie könenn dsieen Staz leesn, ohbowl nur der estre und ltzete Bchustbae jdees Wroets an der rchitiegn Stlele sthet.“
Ebenso werden bestimmte Erwartungen bedient. Auf Bild 2 sind sechs Halbkreise abgebildet, die wiederum kreisförmig angeordnet sind. Es wirkt aber so, als ob in der Mitte ein großer, weißer Kreis gezeichnet ist. Obwohl dieser weiße Kreis keine Kontur hat, können wir ihn sehen. Bild 3 zeigt vier Kreise. Durch die Anordnung der vier hellblau hervorgehobenen Ecken in diesen Kreisen können wir zusätzlich ein Rechteck in der Mitte erahnen. Wenn wir vier Ecken sehen, die parallel zueinander ausgerichtet sind, erwartet unser Gehirn aufgrund von Erfahrungen ein Rechteck vorzufinden. Wir können also Dinge sehen, die eigentlich gar nicht da sind.
In diesen hier dargestellten Fällen ist es recht offensichtlich. Jedoch begegnen uns diese Phänomene auch im Alltag, ohne uns bewusst zu werden. Beispielsweise kennt jeder die Fata Morgana, wenn an einem heißen Sommertag trockene Straßen nass erscheinen. Die eigentliche Luftspiegelung deutet unser Gehirn als Feuchtigkeit, weil Spiegelungen in der Natur meistens durch Wasser entstehen. Letztlich kommt es immer darauf an, ob wir die entsprechenden Erfahrungen auch gemacht haben. Hätten wir niemals eine Spiegelung an einer Flüssigkeit gesehen, würden wir die Straßen in dem Fall auch nicht als nass ansehen. Ähnliches gilt auch für andere Situationen, die wesentlich weniger verbreitet sind. Unterschiedliche Erfahrungen liefern folglich einen weiteren Grund, weshalb nicht alles von jedem Menschen gleich gesehen wird.
Über Geschmack lässt sich nicht streiten
Zwar sind die Unterschiede oft nur marginal, aber wenn wir uns das nächste Mal über die Farbe eines Gegenstandes mit jemandem uneinig sind und über den schlechten Geschmack schimpfen, sind wir mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf vielleicht etwas milder gestimmt. Womöglich sieht der- oder diejenige einfach weniger als man selbst. Denn der individuelle Geschmack wird sicherlich auch durch eine unterschiedliche visuelle Wahrnehmung geprägt.
Quellen
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